Thomas Grenz Fotografie

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Campo Santo

„Wer nicht vergessen wird, ist nicht tot“

 

Eingang Friedhof an der Domhofstraße, Bonn Mehlem 2017

 

Mein allererstes Geld habe ich auf dem Friedhof verdient. Als Achtjähriger mit der Grabpflege von einer Nachbarin betraut, gab es 50 Pfennig für einmal gießen. Meine Auftraggeberin war Frau Erika Riemay, eine geschiedene, kinderlose BFA Angestellte, die direkt gegenüber wohnte. Deutlich älter als meine Mutter hatten die beiden sich angefreundet und trafen sich regelmäßig im Monat um gemeinsam zu „scrabbeln“. Nach mehreren Runden, während derer reichlich Kaffee getrunken und zumindest von „Riemaychen“ einiges an Zigaretten, selbstverständlich ganz damenhaft mit Zigarettenspitze, in Rauch aufging, wurden dann die Punkte ausgezählt und die Verliererin musste die Differenz in Pfennigen in ein gemeinsam betriebenes Sparschwein entrichten.In meiner Erinnerung habe ich diese Spielsituation niemals als gnadenlosen Wettbewerb erlebt, vielmehr ging es wohl vor allem darum, dem geselligen Beisammensein einen rituellen Rahmen zu verleihen. Einmal im Jahr wurde das Sparschwein geschlachtet, bzw aufgeschlossen und der Inhalt dann bei einem gemeinsamen Besuch im Café für Kaffee und Kuchen verjubelt.„Riemaychen“ war von der ihr anvertrauten Wässerung  des mütterlichen Grabes an den trockenen Tagen der Sommermonate schlichtweg überfordert. So radelte ich die knapp eineinhalb Kilometer zum Friedhof und übernahm diese Aufgabe.

 

Wasserbecken, Friedhof an der Domhofstraße, Bonn Mehlem 2017

Ich erinnere die rechteckigen, gemauerten Wasserbecken. Innen verputzt und mit seegrüner Ölfarbe gestrichen, wogten in den tieferen dunklen Wasserschichten geheimnisvoll dunkelgrüne, langflorige Algenteppiche. Das Eintauchen der verbeulten friedhofseigenen Zinkkannen in die dunklen Gewässer, der Geruch nach Moos, Erde und feuchtem Zement. Das Grab der Mutter, Frau Olga Herrmann war ein Eckgrundstück mit Rasenkante an der steinernen Einfassung. Nun galt es, die Stiefmütterchen, Margeriten, Begonien und nicht näher bezeichneten Immergrünen gezielt und nachhaltig zu wässern. Ich habe das damals sehr gewissenhaft und ordnungsgemäß vollzogen, kann mich aber weder an Kontrollen, noch an Einweisungen erinnern. Irgendwann machte ich im Randbereich dieses Gräberareals eher beiläufig die Entdeckung eines vierblättrigen Kleeblattes, was meiner Tätigkeit fortan einen zusätzlichen Motivationsschub verlieh. Ich fand fast jedes Mal eines.

 

„Wiesenstück“, Friedhof an der Domhofstraße, Bonn Mehlem 2017

 

Der Weg zum Friedhof war mir vertraut, lag doch direkt gegenüber an der Domhofstr. die Heilandkirche, zu deren Gemeinde unsere Familie gehörte, dahinter wiederum die evangelische Grundschule, die ich von der ersten bis zur fünften Klasse besuchte. Später dann im angegliederten Gemeindezentrum Konfirmandenunterricht, um alsbald im ebenfalls angegliederten Jugendheim der Gemeinde die ersten Parties, die ersten Küsse und den ersten Vollrausch zu erleben. Also eine typische, evangelisch geprägte Kindheit und Jugend der 60er und 70er Jahre im katholischen Rheinland, ohne dabei jemals ernsthaft gläubig gewesen zu sein. Gewiss gab es die abendlichen Vaterunser vor dem Einschlafen, meist eher als Vehikel benutzt, virulente Ängste, drohende Gefahren, oder brennende Wünsche mit der Möglichkeit göttlichen Segens, oder eben mit dem Wunsch nach großzügiger Nachsicht zu verschränken.Auf meinen Wegen über den Friedhof registrierte ich Biografien im Zeitraffer, Geburtsdatum — Todestag, der Zwischenraum eine Kopfrechenaufgabe und noch heute kann ich mich dem Automatismus dieser Übung nicht entziehen. Das Innehalten bei ungewöhnlichen Namen, besonders kurzen oder langen Lebenszeiten, die Phantasieräume sind grenzenlos.

 

Grabstätte, Friedhof an der Domhofstraße, Bonn Mehlem 2017

 

Spätere  Besuche ausländischer Friedhöfe überraschten mich mit den dort üblichen Abbildern der Verstorbenen, der biografische Zwischenraum bekam ein Gesicht und die mögliche, rein spekulative Geschichte eine andere Richtung. Ein Bild ist ein  wirkungsvolleres Instrument, dem Vergessen etwas entgegen zu setzen, als eine bloße Benennung von Lebensdaten, obwohl beidem dieselbe Geschichte innewohnt.

 

Les Demoiselles d`Herstal 1987,  „Rosalie“

 

Nach Ablauf der Grabstätte Olga Herrmann übernahm noch zu Lebzeiten meine bei uns im Haus lebende Großtante die Stelle, meine „Ota“. Das stand ersatzweise für Oma, 1990 ist sie im Alter von 85 gestorben und dort beerdigt worden. Sie starb ganz friedlich beim Mittagsschlaf während eines Kuraufenthaltes in Bad Salzuflen. Ihre Wohnung im ersten Stock meines Elternhauses stand dann eine ganze Weile lang leer.Nach der Überführung wurde Ihr Leichnam in der Mehlemer Friedhofskapelle aufgebahrt, sie strahlte Ruhe und Zufriedenheit aus, sie war vorbereitet. Schon viele Jahre zuvor hatte sie so manchen Satz mit der Floskel „ Ich gehe ja aus dem Leben“ eingeleitet. Als sie dann mit 80 noch einen Herzschrittmacher erhielt, haben wir uns manchmal darüber amüsiert und es wurde zum geflügelten Wort, wenn es einem selbst nicht mehr der Mühe Wert schien, sich um Veränderung irgendwelcher Zustände zu kümmern.

 

Rastplatz, Friedhof an der Domhofstraße, Bonn Mehlem 2017

 

Im Laufe der Jahre füllte sich der Friedhof mit Namen aus dem Freundes- und Bekanntenkreis meiner Eltern. Bei fast jedem „Heimatbesuch“ bin ich einmal dort gewesen, meistens mit meiner Mutter. Dann haben wir eine große Runde gedreht, alle besucht, an einer jeden Stätte innegehalten und uns ausgetauscht. Nicht jedes Mal, aber meistens besuchten wir auch die Selbstmörderin, Otas Nachmieterin, eine junge alleinstehende Frau von Anfang 30. Nur sechs Wochen nach ihrem Einzug warf Sie sich zu unser aller Entsetzen vor einen Zug. Makabererweise ist ihre Grabstätte ganz am östlichen Rand des Friedhofes direkt und ungesichert angrenzend an den Bahndamm, wo die Fernzüge mit hohem Tempo vorbeirauschen. Dort verläuft die rechrtsrheinische Bahnstrecke, die mehr oder weniger flussbegleitend rheinaufwärts bis nach Basel führt. Immer wieder habe ich mir vorgestellt, wie die Seelen der Verstorbenen, des ewigen Verharrens überdrüssig, als blinde Passagiere auf den vorbeieilenden Zügen in den Süden reisen.

 

Drachenfelsblick, Friedhof an der Domhofstraße, Bonn Mehlem 2017

 

2010 ist mein Vater dort beerdigt worden, ganz pflegeleicht in einem mit einer Grabplatte versiegelten Urnengrab. Wenn ich vor seinem Grab stehe, habe ich einen unverstellbaren Blick auf das Siebengebirge. Ich sehe die Shilouette des Drachenfelses, den hinteren Eingang des Friedhofes und den daran anschließenden Eingang des, das Gleisbett und die parallel verlaufende Schnellstraße unterquerenden, Fußgängertunnels. Dessen Ausgang widerum stößt unmittelbar auf die Ackerstr., die allererste rheinische Adresse meines Vaters nach dem Ende seiner Kriegsgefangenschaft.

Im Mai 2017 ist nun auch das Grab meiner Ota aufgelöst und einegeebnet worden. Nunmehr ein andersfarbiges Areal im Boden und eine dunkle Nische in der um den Grabstein herum gewachsenen Hecke.

 

eingeebnete Grabstätte, Friedhof an der Domhofstraße, Bonn Mehlem 2017

 

Wenn der Tod das Ende von Wachstum und Bewegung bedeutet, ist er auch das Ende der Blicke und Gesten. Die in Stein gemeißelte, oder in Metall gegossene Bewegung einer Skulptur ist eine Momentaufnahme, ähnlich einer Fotografie. Mein fotografischer Dialog mit den Grabschildern und Grabskulpturen ist ein Versuch, ihnen näher zu kommen und das Lebendige in ihnen zu sehen.

 

„Engel“, Nizza 2015

 

Der voranstehende Text hat in gekürzter Form meine diesjährige Ausstellung „Campo Santo“ begleitet, „Wiesenstück“, „Rosalie“ und „Engel“ waren Bestandteil der Ausstellung.

Berlin im Oktober 2017

Text und Fotos

©Thomas Grenz

 

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